Eva Schulz-Jander, Udo Hauser, Elena Padva
(Foto: Gürich)
Arnold-Bode-Schule // 09. Dezember 2021
Liebe Schülerinnen und Schüler, liebes Kollegium,
Vielen Dank für die Einladung, heute hier zu Euch sprechen zu dürfen. Gern habe ich die Einladung von Herrn Hauser angenommen und möchte gemeinsam mit Euch über den 9. Dezember 1941, nachdenken und überlegen, was dieses Datum mit uns heute, am 9. Dezember 2021 zu tun hat.
Es kamen Schritte. Starke Schritte. Schritte in denen das Recht sich häuslich niedergelassen hatte. Schritte stießen an die Tür. Die Tür war die erste Haut, die aufgerissen wurde. Die Haut des Heims. Aus der Familie wurden Teile ausgeschnitten…. Und dies geschah auf dieser Erde. Geschah und kann geschehen.
(Nelly Sachs „Leben unter Bedrohung“ 1956)
Gibt es eine eindrücklichere Beschreibung der Schrecken von Verfolgung und Gewalt als diese Worte von Nelly Sachs?
Aber die meisten von Euch hier werden die Bilder, die diese Worte wachgerufen, kaum mit einem eigenen Erlebnis verbinden. Es sind verstörende Bilder, bekannt aus Filmen, Fernsehen oder dem Internet über Krieg und Vertreibung. Sie gehören keineswegs der Vergangenheit an, wir sehen sie täglich, und sie lassen uns sprach- und machtlos zurück.
Das erste Mal hörte ich die gewaltsamen, drohenden Schritte nachts, es war der 9. November 1938, Sie rissen mich aus dem Schlaf. Ich war drei Jahre alt. Schritte wie Hammerschläge traten gegen die Tür, und dann hörte ich Glass splittern, und die Schritte gingen über das Glas, und es knirschte. Männerstimmen grölten mir unverständliche Worte, aber sie klangen bedrohlich. Worte, die ich nicht verstand. Meine Eltern rannten durch mein Zimmer, für mich hatten sie keine Zeit. Irgendwann schlief ich wieder ein. Am nächsten morgen sah ich die Scherben, lauter Scherben vor unserem Haus, das Geschäft verwüstet, meine Eltern kehrten die Scherben auf, und Leute gingen mit gesenktem Blick vorbei. Ich wollte helfen, aber sie schickten mich nach oben. Da war es kalt, auch diese Fenster lagen nun auf der Straße, für alle sichtbar.
Und ein Jahr später kehrten sie zurück, die Schritte. Ich höre sie noch immer in meinem Kopf, sie sind dort eingraviert. Und ich weiß noch, wie die erste Haut, unsere Tür, aufgerissen wurde, und wie Teile der Familie ausgeschnitten wurden, erst meine Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, dann mein Vater, meine Großmutter, und schließlich auch meine Mutter. Unser Geschäft gehörte jetzt anderen, Fremden, sie wohnten in unserer Wohnung. Und alles war weg, die vertraute Wohnung, unser Hund, das Auto und das Radio, der Steinway Flügel. Juden durften all das nicht mehr haben. – ein neues Gesetz. Und die Schritte kamen immer wieder, bis alles weg war.
Ich durfte nicht ins Schwimmbad, nichts ins Kino, oder in den Park, und irgendwann Mal durfte ich auch nicht mehr in die Schule. Verbote umstellten mich wie ein Stacheldraht. Irgendwo auf dieser Welt wird, vielleicht in diesem Augenblick, das Leben einer Familie zerstört durch willkürliche Macht – in Syrien, in Afghanistan oder Myanmar. Genauso so wenig wie ich werden diese Menschen die Schritte der Gewalt je vergessen können. Und jetzt stehe ich hier in eurer Schule und erzähle Euch von damals.
In Kassel wurden die Fensterscheiben bereits am 07. November 1938 eingeschlagen, jüdische Männer verhaftet, gedemütigt, und die Synagoge in der Unteren Königsstr. zerstört. Viele schauten weg, schwiegen oder klatschen Beifall. Drei Jahre später heute genau vor 80 Jahren wurde der erste Massentransport von 1000 Juden, Männer, Frauen und Kinder aus dem Regierungsbezirk Kassel in das Ghetto Riga verschleppt und dort ermordet. Juden aus dem Umland wurden aus ihren Wohnungen verjagt, auch hier haben Schritte wieder Türen eingetreten, die Haut des Hauses verletzt und in Kassel, das „als Konzentrationsort für Juden des Umlands“ galt, in Massenunterkünften eingewiesen. Es gab die sogenannten Judenhäuser, zum Beispiel zwei gleich hier in der Schillerstraße 7 und 9., in die Juden aus dem Umland eingewiesen wurden, um auf ihre Deportation, den wahrscheinlichen Tod, zu warten. Eine dieser Massenunterkünfte war auf dem Gelände, auf dem jetzt Eure Schule steht. Genau hinter mir, wo jetzt der Pavillon steht, war die Turnhalle, die als Massenunterkunft diente, nur die unteren Mauerreste sind übriggeblieben. Stumme Zeugen.
Und am 9. Dezember 1941 mussten die Juden von hier aus, mitten am Tag, zum Bahnhof, dem Gleis 13 oder 14 gehen. Stellt Euch das mal vor, ein Zug von Kindern, Frauen und Männern, alte und junge, jeder und jede mit einem Koffer in der Hand, Kinder weinen, es ist kalt, vielleicht hat es geschneit, sie gehen durch die Straßen, und keiner fragt wohin geht ihr, keiner schreit auf, keiner kennt sie mehr, die ehemaligen Nachbarn, die Leute gehen schweigend vorbei, schauen weg, vielleicht haben manche sogar geklatscht. An den Gleisen mussten sie in die in die Güterzüge steigen, in Viehwagons ohne Luft oder Licht, mehr als 50 Menschen in einem Wagon, ohne Sitzplätze, nur der kahle Fußboden und so fuhren diese Züge tagelang gen Osten. Auch Ruth Lentschner ging diesen Weg an ihrem 11. Geburtstag zusammen mit ihren Eltern, Bella und Faibus und den Geschwistern, Issac, 16 Jahre alt, Josef 13, Heinz 10, Frieda 8, und Hermann, er war grad Mal vier Jahre alt, alle stiegen in den Zug nach Riga. Niemand kam wieder.
Siegfried Ziering, der als 13-jähriger mit seiner Mutter und seinem Bruder Herman mit dem gleichen Zug nach Riga deportiert wurde und überlebte und schreibt 1947, an seinen Vater, der in England überlebt hatte,: „Am 9. Dezember 1941 wurde der Transport in der Turnhalle Schillerstraße zusammengestellt…. Die Hälfte aus Kassel, die anderen aus der Umgebung. Nachmittags fuhren wir ab. Wir fuhren über Berlin, Breslau, Posen, Königsberg, Tilsit und kamen am 12. Dez. 41 in Riga an. Es war 40 Grad Kälte. Das meiste Gepäck ließen wir am Bahnhof auf nimmer Wiedersehen. Bei einem furchtbaren Schneesturm mussten wir ins Ghetto marschieren. Zehn Kilometer … Wir bekamen zu zehn Personen ein kleines Zimmer und Küche. Die ersten drei Wochen bekamen wir überhaupt keine Verpflegung. Im Juni und im September 1942 gingen zwei weitere Transporte von Kassel in den Osten.
Ein Jahr später, im Oktober 1943, vor 78 Jahren, wurde die Stadt Kassel in einem verheerenden Bombenangriff zerstört und alle waren betroffen. Keiner konnte mehr wegsehen. Die Erinnerung an und die Trauer über diese Bombennacht sind noch sehr lebendig in unserer Stadt. Die Vergangenheit dringt immer wieder an die Oberfläche, aber eben nicht die ganze Geschichte.
Wir müssen wissen, dass der 7. November 1938 und der 22. Oktober 1943 zusammengehören. Die Zerstörung Synagoge und der Terror gegen die Kasseler Juden standen am Anfang, am Ende war die Bombennacht und die Zerstörung der Stadt.
Wir sind heute hier zusammen, um an die Opfer von damals zu denken, und wir tuen das, weil der Satz von Jean Améry, der auf einer Gedenktafel vor dem Gebäude der IG Farben in Frankfurt steht uns zur Mahnung geworden ist.
Niemand kann aus der Geschichte seines Volkes austreten. Man soll und darf die Vergangenheit nicht ‚auf sich beruhen lassen‘, weil sie sonst aufstehen kann und zu neuer Gegenwart werden könnte.
Ihr und Eure Eltern waren damals noch nicht geboren, vielleicht noch nicht mal Eure Großeltern, aber es ist dennoch Eure Geschichte, und Ihr müsst sie kennen und erinnern. Denn Erinnerung an unsere Vergangenheit schärft den Blick für das Leid und Unrecht der Gegenwart.
Und wie sieht sie aus, unsere Gegenwart? Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, und Rassismus sind bei weitem nicht in den Annalen der Geschichte verschwunden. Nein, sie zeigen ihr Zerrbild im Hier und Jetzt. Wörter sind schärfer als Waffen und wirken wie ein Gift.
Es scheint, dass die Pandemie den Verschwörungsmythen und Narrativen eine willkommene Gelegenheit bietet sich wieder, wie das tödliche Virus, zu verbreiten. Längst diskreditierte Märchen erwachen zu neuem Leben. Sie sterben nie, man kann sie leicht an eine neue Zeit und neuen Gefahren anpassen und hervorholen. Das Muster dieser Mythen ist einfach, ein unerklärbares Ereignis, wie das Virus, erzeugt Angst, Unsicherheit und ein Gefühl von Machtlosigkeit, da werden Schuldige gesucht. Seit dem Mittelalter werden Juden für Unheil verantwortlich gemacht. Die international verzweigte Macht der Juden, ihre Geldgier wurden und werden für Krisen verantwortlich gemacht. Das funktioniert auch in Coronazeiten. So wurden bereits im vorigen Jahr hinter den Corona-Maßnahmen der weltweite jüdischer Einfluss vermutet. Logik hat mit diesem mythischen Denken nichts zu tun. Denn gleichzeitig sehen wir immer wieder Querdenker, die sich mit dem Davidstern zeigen, auf dem ungeimpft steht, oder sich mit Sophie Scholl oder Anne Frank vergleichen. Sie verharmlosen Totalitarismus und Judenverfolgung. Sie verfälschen die Geschichte, und missbrauchen die Erinnerung an die Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Mitläufer.
Und zweitens sind wir hier, weil Ihr jung seid, Ihr seid die Zukunft, Ihr könnt bestimmen, wie sie aussehen wird. Es ist an Euch unsere fragile, stets gefährdete Demokratie zu schützen. Ihr müsst Eure Stimme erheben, Euch einmischen, wenn Unrecht um Euch herum geschieht, wenn Ihr Verschwörungsmythen hört, wenn eine Schülerin, ein Schüler gemobbt wird, oder jemand auf dem Schulhof mit Du Jude beschimpft wird.
Fridays for Future ist eine wunderbare Jungendbewegung, aber denkt daran, dass unsere Umwelt die Natur und die Gesellschaft miteinschließt, Ihr wollt nicht in einer Gesellschaft leben, die die Natur zerstört, aber Ihr wollt auch nicht in einer Gesellschaft leben, die Menschen verfolgt, verteufelt, ausgrenzt oder jagt. Zivil Courage kennt kein Alter.
Und drittens sind wir hier zusammen, weil Ihr Euch mit dieser Geschichte beschäftigt, und die Geschichte weitererzählen könnt, sie mit anderen teilen könnt. Ihr könnt mit Geschichtswissen gegen Verschwörungsmythen argumentieren. Ich bin alt und gebe den Stab ab an Euch.
Das Wissen um die Geschichte dieses Landes ist eine Brücke zur Gegenwart und führt in die Zukunft. Diese Brücke ist die Erinnerung, die aus dem Erzählen und Zuhören der Geschichte gebaut wird. Wenn alle Zeugen verschwunden sind müsst Ihr die Geschichte weiter erzählen, damit sie nicht aufsteht und uns erwürgt.
So will ich Euch zum Schluss noch eine jüdische Geschichte erzählen:
„Wenn der Großrabbi Israel Baal-Schem-Tow sah, dass dem jüdischen Volk Unheil drohte, zog er sich für gewöhnlich an einen bestimmten Ort im Walde zurück; dort zündete er ein Feuer an, sprach ein bestimmtes Gebet, und das Wunder geschah: Das Unheil war gebannt.
Später, als sein Schüler, der berühmte Maggid von Mesritsch, aus den gleichen Gründen im Himmel vorstellig werden sollte, begab er sich an denselben Ort im Wald und sagte: Herr des Weltalls, leih mir dein Ohr. Ich weiß zwar nicht, wie man ein Feuer entzündet, doch ich bin noch imstande, das Gebet zu sprechen. Und das Wunder geschah.
Später ging auch der Rabbi Mosche Leib von Sasow, um sein Volk zu retten, in den Wald und sagte: Ich weiß nicht, wie man ein Feuer entzündet, ich kenn‘ auch das Gebet nicht, ich finde aber wenigstens den Ort, und das sollte genügen. Und es genügte: Wiederum geschah das Wunder.
Dann kam der Rabbi Israel von Rizzin an die Reihe, um die Bedrohung zu vereiteln. Er saß im Sessel, legte seinen Kopf in beide Hände und sagte zu Gott: Ich bin unfähig, das Feuer zu entzünden, ich kenne nicht das Gebet, ich vermag nicht einmal den Ort im Walde wiederzufinden. Alles, was ich tun kann, ist, diese Geschichte zu erzählen.
Das sollte genügen. Und es genügte.“
Ihr müsst die Geschichte erzählen. Das ist alles, was Ihr tun könnt, diese Geschichte erzählen und das sollte genügen, damit auch hier das Wunder einer gerechteren, friedlichen und toleranten Welt geschehen kann. Jede und jeder Einzelne ist gefragt durch ganz persönliches Tun diesem Wunder die Hand zu reichen. Und wenn Euch jetzt so richtig kalt ist, dann denkt an die Menschen, die von hieraus bei minus 10 Grad, es war ein besonders kalter Winter im Jahr 1941, zum Bahnhof gingen und in die eisigen Züge stiegen. In Andenken an sie können auch wir etwas frieren.
Eva Schulz-Jander
(Dezember 09. 2021)
Noch einmal zurück zu meiner Geschichte: nach dem Krieg haben jüdische Hilfsorganisationen Überlebende der Lager im Osten mit den gleichen Güterzügen, mit denen sie Jahre davor nach Osten deportiert wurden, nun nach Westen in die DP-Lager transportiert. Auch wir fuhren von Wroslaw aus mit einem solchen Zug, und wieder waren fünfzig Menschen in einem Wagon, ohne Verpflegung, manchmal gab es Wasser, die Fahrt dauerte 10 Tage, bis wir in die Britische Zone und ein DP-Lager kamen. Ich weiß noch genau, wie die Menschen in unserem Wagon, an den dieses Mal geöffneten Türen saßen, und die Lager-Hymne sangen. Zwangsarbeit ich kann dich nie vergessen, weil Du mein Schicksal bist. Es war eine unwürdige Fahrt, hochtraumatisierte Menschen auf engstem Raum zehn Tage lang. Auch der Weg in die Freiheit war kein einfacher.
Zwei Jahre nach dem ersten Transport, in der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober